In der sogenannten Wissensgesellschaft herrscht das Dogma des sicheren Wissens. Das sieht man etwa daran, dass in der Schule das Fach Mathematik bei den Naturwissenschaften verankert ist und nicht bei der Philosophie. So als ließe sich Mathe auf Rechnen reduzieren. Doch auch sonst gilt: Berechnungen sollen ein sicheres Wissen erzeugen. Häufig entsteht dabei der Eindruck, Zahlen würden schon für sich allein ein bestimmtes Wissen bestätigen. Dabei werden zwei zentrale Aspekte außeracht gelassen.
Zunächst stehen Zahlen nie für sich allein. Sie bedürfen einer Inzusammenhangsetzung, um etwas zu bedeuten. Erst der Kontext sorgt für die bedeutungsgebende Umgebung. Mit der Einordnung in einen Zusammenhang ist indes eine Interpretation verbunden, die ihrerseits bestimmten Interessen folgt. Sicheres Wissen ist sofern immer ein Wissen, dass im Interesse eines bestimmten Diskurses und seiner spezifischen Sprachregelungen steht.
Beispiel Finanzpolitik: In parlamentarischen Debatten um das Steuerrecht argumentiert das Finanzministerium auf der Basis von Rechenmodellen. Diese Modelle haben nicht nur den Zweck, den Abgeordneten eine fachlich abgesicherte Wissensgrundlage zu geben; sehr häufig sollen sie auch die finanzpolitischen Gegenvorschläge der Opposition als unrealistisch dastehen lassen. Die Basisdaten für die oftmals sehr komplexen Berechnungen behält das Ministeriums meist für sich; so lassen sich bei Bedarf immer neue Rechenmodelle im Dienst der eigenen Politik erstellen. Alternative Vorschläge etwa zum fiskalischen Umgang mit der kalten Progression, dem Solidaritätsausgleich oder der Rente mit 63 erscheinen so sinnvoll oder unrealistisch. Vermeintlich sicher gewusstes Wissen entpuppt sich hierbei als ein Effekt beliebig verschiebbarer Rechenwerte.
Der Glaube an ein sicher gewusstes Wissen schiebt noch einen zweiten wichtigen Aspekt beiseite – die Perspektive ex post. Denn in der Regel kümmert sich im Nachhinein niemand um die Frage, ob vorab festgelegte Ziele (etwa die Lenkungsziele bei der Ökosteuer oder beim Elterngeld) tatsächlich erreicht wurden. Niemand geht dieser Frage öffentlichkeitswirksam nach. Das liegt zum Teil auch daran, dass das Dogma des sicheren Wissens eng an eine ebenso dogmatische Zukunftsgerichtetheit gebunden ist, die den Blick zurück strikt meidet. Einmal gefasste Urteile auf „Faktenbasis“ werden späterhin nicht mehr hinterfragt.
Dabei würde die retrospektive Betrachtung dafür sensibilisieren, wie sehr die Rolle von Zahlen und Messdaten insbesondere in der Prognose von gesellschaftlichen Entwicklungen überschätzt wird. Hierhinter verbirgt sich kein Relativismus aus Angst vor der Wahrheit eines sicheren Wissens, sondern die Überlegung, dass Wissen immer nur vermeintlich sicher sein kann, weil es niemals nur für sich allein existiert. Beim Blick zurück geht es sofern auch nicht darum, ein sicheres Wissen zu Zahlen und Fakten final festlegen zu wollen, sondern das vorhandene Wissen in Bewegung zu setzen.
Gerade die Position des sicheren Wissens ist zu hinterfragen. Dazu gehört es, Autoritäten aller Couleur, die in die Position des Wissenden gerückt werden, dynamisch in eine Prozessarchitektur des Wissenstransfers einzubinden. Die psychoanalytische Herangehensweise setzt hier an und relativiert die Wissensvertikale, indem sie die Position des Wissens diversifiziert. Ihre Schlüsselmethodik der freien Assoziation und ihre Expertise im Argumentieren auf der Basis von hypothetischen Annahmen eröffnet den Freiraum, um dem Faktischen weitere und andere Bedeutungen hinzuzufügen. MSG
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