Die Epistemik von Psychoanalyse untersucht den Transformationsprozess von symbolbezogenen Bedeutungsveränderungen: Was führt dazu, dass ein Symbol in ein anderes übertragen wurde? Bedeutungsveränderungen etwa im Sprachgebrauch hinterlassen Spuren; um ihre Entzifferung geht es dem psychoanalytischen Ansatz. War das Anwendungsgebiet dieser Art von Spurensuche zunächst auf psychoneurotische Symptome begrenzt, erweiterte es schon Freud auf andere Phänomene und Beobachtungen in Kunst, Literatur, Kultur und Alltag.
Der Wandel von Bedeutungen fordert den Blick zurück ein. Der Ist-Zustand wird nach und nach verständlich, wenn der Versuch unternommen wird, sich erinnernd mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Für die Psychoanalyse ist es dabei weniger entscheidend, Vergangenes möglichst lückenlos, vollständig oder „wahr“ zutagezufördern, sondern die vielfältigen Versionen von Vergangenheit in Form von Erzählungen nebeneinander hörbar werden zu lassen. Gerade die Widersprüche, Auslassungen und Brüche in Erinnerungen liefern das Material, das für die psychoanalytisch perspektivierte Suche nach Bedeutungsverschiebungen relevant ist.
Das Erinnerte, resümiert Freud an einer Stelle, ist zugänglich nur in der Form, wie es gegenwärtig erinnert wird. Aus psychoanalytischer Sicht meint Spurensuche ein Etappenprogramm, das Bedeutung, verstanden als eine Annäherung an Sinnstrukturen, erst im Nachhinein rückwirkend erzeugt. Im Unterschied zur Geschichtsforschung im positivistischen Sinn geht es hier um den Umgang mit Reminiszenzen und Phantasien, auch mit Kindheitsphantasien und deren Umbildungen bis ins hohe Lebensalter.
Dementsprechend erscheint das Subjekt nicht als eine einmal festgelegte Instanz, sondern als „eine immer prekäre Konstruktion des Subjekts selbst“ (Reinhard Sieder). Gleichwohl kommen die verschiedenen Aussagen von Individuen über sich selbst in Form von Erzählungen, Beschreibungen, Urteilen, Meinungen, Argumenten etc. nur dann zur Geltung, wenn sie von einem Anderen gehört und gespiegelt werden. Soziales Handeln verfolgt nicht selten den vorrangigen Zweck, dem Einzelnen die nötige Aufmerksamkeit zu verschaffen, um überhaupt etwas sagen zu dürfen.
Ohne den Umgang mit dem Rezenten, also dem, was gerade erst war (wozu ein Leben lang vor allem die Kindheit zählt), kommt keine Ich-Erzählung aus. Das gilt auch mit Blick auf moderne Ich-Erzählungen, die nicht nur vom gelebten Leben, sondern immer auch vom möglichen Leben handeln – also von dem, was in der Zukunft noch passieren soll. Ungeachtet dessen steckt in den Aussagen über Lebensmöglichkeiten immer auch der Versuch, eine Sprache für das Rezente zu finden.
Die Psychoanalyse macht als einzige Wissenschaft vom Menschen ernst mit der Devise, wonach das Kind der Vater des Mannes sei. Die paradoxale Formel bringt auf den Punkt, dass sich der Mensch seiner Zukunft von der Vergangenheit her nähert. Die strukturale, subjektive, auf eine Epistemik der Verneinung ausgehende „Hermeneutik“ der Psychoanalyse fügt den gängigen Lesarten von Lebensaussagen diverse Lesarten hinzu, welche sich an einem rückbezüglichen Aufgreifen von Details aus den Mitteilungen selbst orientieren.
Das Sprechen über das Rezente gleicht einer endlosen Kette von Revisionen, in denen fortwährend nach Identität und Differenz gesucht wird. Was ist geblieben? Was hat sich verändert? Wenig verwunderlich eingedenk der rasanten Geschwindigkeit, in der heutzutage Biographien den Zeitläufen angepasst werden. Indes muss man dies nicht für ein Phänomen der Moderne halten. Schon Heraklit wusste, dass nichts so beständig ist wie der Wandel. MSG
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