Gender Mainstreaming will die unterschiedlichen Interessen von Männern und Frauen in Beruf und Gesellschaft berücksichtigen. Dabei scheint nichts so selbstverständlich bestimmbar wie das Geschlecht. Doch woran orientiert sich die geschlechtliche Identität? Reicht hier ein Blick, um den sogenannten „kleinen Unterschied“ zu erfassen? Wahrheitsverständnis und Sexualität verbindet eine komplexe Beziehung.
Heidegger fasste in Sein und Zeit Wahrheit als das „Unverborgene“ auf und leitete daraus ein Wahrheitsverständnis im Sinne einer Wiederaneignung des Entdeckten ab. Was beim Menschen zu Beginn in der Geburtsurkunde textlich festgehalten wird, Junge oder Mädchen, ist im Zuge der Sexualforschung des Kleinkindes sowie im Adoleszenzverlauf fortwährend Objekt der Neugier.
Die symbolische Besetzung der Sexualität in der Kindheit führt am schärfsten die Frage des Wissens und des Bewusstseins ein. Infantile Neugier und Offenheit treffen auf die Sprach- und Sprechformeln der Erwachsenen und ihrer kulturellen Vorgaben. Diese Formeln tragen maßgeblich zur „passenden“ normativen Einordnung in der Geschlechterfrage bei.
Dabei wird im Anerkennen und Wiederholen von Normen Geschlecht eher verdeckt als entdeckt. Denn es gibt keine reine Bezugnahme zu einem Körper, in der sich nicht zugleich auch eine Normierung offenbart. In stereotyper Zuspitzung gilt immer noch: Mädchen tragen rosa Kleider und spielen mit Puppen, Jungs haben die Haare kurz und stehen auf Bagger. Kurzum: Der Persönlichkeitsbereich des Einzelnen endet beim Geschlecht.
Während Freud darüber nachdachte, inwieweit Identifizierung mit Mutter und Vater, den ersten Anderen, zur Bildung einer geschlechtlichen Identität führe, verschob Lacan den Blick auf die Rolle des Signifikanten und wies ihm die eigentliche Schicksalsmacht zu, die Frage der geschlechtlichen Identität eines Subjekts zu bestimmen. Doch auch Freud hatte diesen Punkt gesehen und schrieb an einer Stelle: Die Phantasie besteht aus nachträglich verstandenem Gehörten.
Unter dem Stichwort Gender versammeln sich nunmehr zahlreiche Spielarten geschlechtlicher Existenzformen wie Homo, Queer oder Transgender. Nicht zuletzt kommt hierin zum Ausdruck, dass Geschlecht offensichtlich nicht auf die anatomische Alternative Mann oder Frau beschränkt werden kann. Aus psychoanalytischer Sicht gibt vor allem das Objekt des Begehrens Auskunft über die sexuelle Orientierung. Als solches kommen indes viele in Betracht.
Das Konzept der sexuellen Vielfalt (Gender Diversity) als Ausdruck der Anerkennung divergierender Identitätskonzepte leuchtet zumeist eher ein, als die Auffassung der geschlechtlichen Differenz. Letztere führt in Betracht, dass der Mensch nicht nur beide Geschlechter in sich vereint, sondern überdies divergierende Phantasien hat, die sein sexuelles Selbstverständnis prägen. Das ist nicht etwa Chaos oder gegen die kulturelle Ordnung gerichtet, sondern zunächst ein Effekt der Instinktferne des Menschen.
In der Frage der sexuellen Identität ist der Mensch ein Produkt seiner kulturellen Bedingungen. Er bewegt sich konflikthaft zwischen unbewusstem Begehren und kulturellen Tabus. Der Sophokleische Ödipus wurde hierfür bei Freud zum Prototyp. Ein Wahrheitsverständnis in dieser Identitätsfrage wie auch in anderen gibt es nur vorläufig oder situativ gebunden. So oder so muss es durch Symbolarbeit, vor allem durch Sprachgebrauch, erworben und entwickelt werden. MSG
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