Die Zukunft der Psychoanalyse hängt davon ab, inwieweit sie ein ähnliches Interesse für gesellschaftliche Fragen entwickeln kann, wie es der ersten Generation der Psychoanalytiker gelang.

(A. Mitscherlich)

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Realität und Reales 

Das Reale macht sich oft dort bemerkbar, wo die Realität nicht mehr den gewohnten Regeln folgt. Fellbär zur Fastnacht in Singen am Hohentwiel.
Das Reale macht sich oft dort bemerkbar, wo die Realität nicht mehr den gewohnten Regeln folgt. Fellbär zur Fastnacht in Singen am Hohentwiel.

Das psychoanalytische Reale steht in merkwürdiger Opposition zum Realitätsbegriff. Unter Realität wird die Wirklichkeit verstanden, also das Gegenteil von Illusion. Demgegenüber kommt man mit dem Realen der Psychoanalyse nur in Träumen, Fehlleistungen, Affekten, Symptomen, aber auch im Genießen in Berührung. Was steckt hinter diesem Realen? Und in welchem Verhältnis steht es zur Realität?

 

Das psychoanalytische Reale zeichnet sich nicht gerade durch hohe Anschaulichkeit aus. Es teilt sich nicht unmittelbar mit und wird meist erst im Nachhinein erfassbar. Das hat einen bestimmten Grund: Wo das Reale auftaucht, ist das Imaginäre ins Schwanken geraten. Man denke an phobische Erlebenszustände, an plötzliche Beklemmungen in engen Räumen oder an die Wunschangst vor dem Kontakt mit bestimmten Menschen. Jeder kennt auch folgende Situation: Man betritt mit anderen einen Fahrstuhl und plötzlich unterbrechen alle ihre Gespräche. Welche Art von Realität drängt sich hier nach vorn?


Das Reale unterbricht den Zugang zum Imaginären und erzeugt einen Moment der Unbestimmtheit. Das Imaginäre ist nun aber gerade der Raum, wo Menschen einander begegnen und sich Beziehungen anbahnen. Um aufeinander zugehen zu können, braucht es das Vorstellungsvermögen und seine Assoziativkraft. In der Fahrstuhlszene könnte etwa eine witzige Bemerkung die Unbestimmtheit der Situation aufheben und den Fortgang der Gespräche ermöglichen. Die ungewöhnliche Nähe fremder Menschen führt indes zunächst dazu, dass die Phantasie außer Kraft gesetzt wird.


Das Reale erinnert uns daran, dass wir auf innere Bilder angewiesen sind, um uns im Leben orientieren zu können. Innere Bildstörungen führen zu Desorientierungen ähnlich der Erlebensqualität schizoider Menschen. Das Unheimliche ist beispielsweise eine ästhetische Wahrnehmung, die einer inneren Irritation in Hinblick auf den Realitätsgehalt des visuell Wahrgenommenen entspricht. Der Eindruck des Unheimlichen oder auch Unverborgenen stellt sich ein, sofern plötzlich nicht mehr eindeutig ist, ob ein Objekt tot oder lebendig, fremd oder vertraut, falsch oder echt u.s.w. ist.

 

Diese Wahrnehmungsirritationen gehen mit einer Störungen der Repräsentanzfunktion einher. Bereits früh lernen wir, dass nichts so ist, wie es scheint und dass es realitätsvermittelnde Vorstellungen gibt, die ihrerseits an sprachliche Ausdrücke geknüpft sind: Die Spielzeugpuppe trägt zwar Kleider und hat einen Namen, und zeitweise sehen Kinder in ihnen tatsächlich etwas Lebendiges; im Reifungsprozess wird diese Vorstellung dann jedoch überwunden. Es wird verinnerlicht, dass Puppen oder andere Dinge unbelebt sind und dass es die Imagination ist, die sich zwischen sie und die Wahrnehmung einschaltet.

 

Von Freud erfahren wir, dass es oft unheimlich wirkt, „wenn die Grenze zwischen Phantasie und Wirklichkeit verwischt wird, wenn etwas real vor uns hintritt, was wir bisher für phantastisch gehalten haben, wenn ein Symbol die volle Leistung und Bedeutung des Symbolisierten übernimmt und dergleichen mehr“ (Freud 1919h, S. 258). Interessant ist Freuds Formulierung, wonach „etwas real vor uns hintritt“. Man könnte meinen, dass in der realen Welt alles real vor unser Auge tritt. Aus psychoanalytischer Sicht gilt indes, dass unsere Wahrnehmungswirklichkeit der Realität weitaus weniger verbunden ist, als landläufig angenommen.

 

So kann es vorkommen, dass man seine Wohnung betritt und plötzlich nicht mehr weiß, wo der Lichtschalter ist. Man braucht einen Moment der Besinnung, bis ein Bild zurückkehrt und man sich erinnert, wo sich der Schalter befindet. Solche Fälle von Dissoziation sind Teil unserer Alltagswirklichkeit und lassen sich mit rationalen Erklärungen – Übermüdung, Abgelenktsein etc. – nicht abschließend erklären. Denn so etwas wie den Lichtschalter in den eigenen vier Wänden findet man für gewöhnlich blind. Dieses Beispiel erinnert indes an den Übergang vom Traum ins Wachleben.

 

Gerade anhand des Traums kann allgemeinverständlich gemacht werden, dass es zwei Realitätsebenen im menschlichen Wirklichkeitserleben gibt. Wir schließen die Augen und halluzinieren anhand einander schnell abwechselnder Bilder. Das bewusste Denken vollzieht sich demgegenüber nicht im Medium des Bildes, sondern anhand von Symbolen, d.h. im Gebrauch der Sprache und ihrer Zeichen und Laute. Zwischen den Medien Bild und Sprache vollziehen sich fortwährend Übersetzungsvorgänge. Auf diese Übertragungen zielt die Psychoanalyse.

 

Es gibt Fälle, und sie übersteigen den Geltungsbereich der neurotischen Symptomatik, wo Realität nicht anschaulich ist, und es ist genausowenig die Anschaulichkeit der Realität, nach der die Subjekte konstituiert sind. Der analytische Prozess will den Realitätsgehalt individueller Wahrnehmungen überprüfbar machen, versteht unter Realität indes nicht nur die äußere Wirklichkeit, sondern insbesondere die psychische Realität eingedenk der schon frühen Einsicht Freuds, dass es im Unbewussten ein Realitätszeichen nicht gibt.

 

Was die Subjekte konstituiert, ist nach psychoanalytischer Erfahrung der „Sprachgebrauch“, der zur Darstellbarkeit des psychischen Zustands die Brücke herstellt. (vgl. Freud 1893, Nachtr., S. 190) Lacan zufolge bietet die Sprache die Struktur, nach der Individuen konstituiert sind. Das Subjekt ist demnach verschiedenen Kräften ausgesetzt, die an ihm zerren und es in unterschiedliche Richtungen drängen und ziehen. Für diese Kräfte fand Lacan die Begriffe des Symbolischen, Imaginären und Realen.

 

Für Lacan liegt das Reale außerhalb der Prozesse des Symbolischen und findet sich in der Welt der Psyche ebenso wie in der materiellen Welt. Ein Traum lässt sich demnach ebensowenig behandeln und symbolisieren wie Objekte in ihrer bloßen Materialität. Die Sprache hat jedoch Macht über das Reale. (Lacan I 117, III 212, XI 56ff.)


Freud konzipiert Denken als Wechselwirkung von primären und sekundären Vorgängen im psychischen Apparat. Das Reale befindet sich gewissermaßen hinter diesem Apparat, man kann es mit Freud die Arbeitsanforderung des Körpers an die Seele nennen. Das Reale bei Lacan geht dem denkenden Mensch aus dem Weg, um ihn ungeachtet dessen doch immer wieder einzuholen.

 

Wiederholungsphänomene lassen sich auch deshalb so schwer bearbeiten und verändern, weil das Register des Realen, das in ihnen wirkt, für eine symbolische Bearbeitung unzugänglich ist. Das Reale ist im Unterschied zur Realität nicht assimilierbar. Es wirkt weitgehend unbewusst in sich wiederholenden Phantasien und Phantasmen, deren Lustprinzip zum Beispiel beim Trauma auch auf höchst unlustvolle Weise erlebt werden kann. (Vgl. Lacan XI, S. 61)

 

Auch das Reale des Genießens ist grenzenlos und verlangt nach einem grenzensetzenden Dritten, um nicht in Qualen zu enden. Diese Grenzsetzung erfolgt keineswegs nur durch die klassische Vaterposition, sondern bereits durch die Geste jener Deprivation, die im Gebrauch der Sprache Grenzen festlegt.

 

Interessant ist letztlich die Frage: Was weckt? Nicht im herkömmlichen Sinn, wonach man aus dem Schlaf geweckt wird und die Realität bewusst wahrnimmt. Was weckt vielmehr aus der Realität, infolge dessen das Reale erfassbar wird? Es sind jene Phänomene, denen das psychoanalytische Interesse gilt: die zweite Realität des Unbewussten. MSG


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