Die Zukunft der Psychoanalyse hängt davon ab, inwieweit sie ein ähnliches Interesse für gesellschaftliche Fragen entwickeln kann, wie es der ersten Generation der Psychoanalytiker gelang.

(A. Mitscherlich)

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Talking Cure für Organisationen

Das Ich als Organisationsform (zeichnerische Darstellung Freuds 1933). Die Beziehung zum Anderen, elementarer Bestandteil der Psychoanalyse und der psychodynamsichen Arbeit mit Organisationen, bleibt hier unberücksichtigt.
Das Ich als Organisationsform (zeichnerische Darstellung Freuds 1933). Die Beziehung zum Anderen, elementarer Bestandteil der Psychoanalyse und der psychodynamsichen Arbeit mit Organisationen, bleibt hier unberücksichtigt.

Organisationen des Wirtschaftslebens funktionieren als Teil eines komplexen ökonomischen Ordnungssystems, in denen durchrationalisierte Strukturen Funktionsfähigkeit und Überleben sichern sollen. Zugleich bestimmen Menschen über den Erfolg ihrer Einrichtung, so dass sich in Organisationen Objektivität und Subjektivität in komplexer und dynamischer Weise durchdringen. Das Medium, mit dessen Hilfe diese Prozesse koordiniert werden, ist die Sprache und das Sprechen. Doch werden deren Bedeutung und Rolle für die Geschicke von Menschen und ihrer Verbünde oftmals nicht gesehen.

 

Dabei ist das Miteinander-Sprechenkönnen die Grundvoraussetzung dafür, dass sich Menschen zusammentun. Denn ohne den Austausch von Worten würde der Einzelne zu einem Isolat mit den damit einhergehenden psychoneurotischen Gefährdungsrisiken. Die Erfahrung, dass das Individuum unter dem Einfluss von Vereinzelung zu einer paranoischen Aneignung von Welt tendiert, steht bekanntlich am Anfang der psychoanalytischen Entdeckungen Freuds, siehe zum Beispiel die Geruchshalluzination im Fall der Lucy R. in Studien über Hysterie.

 

Lucy’s Geruchshalluzinationen erwiesen sich als „Erinnerungssymbole“ (Freud) für eine kränkende Szene mit ihrem Arbeitgeber, die sie aus dem Gedächtnis verbannte. Ein Vorgang, der an sich zeitlos ist und überall vorkommen kann. Halluzinative Symptome, also Symptome mit paranoischem Vorstellungs- oder Wahrnehmungscharakter, treten auch in nicht hinreichend durchgearbeiteten Organisationen auf. Unter den Mitgliedern fehlt dann häufig die Gelegenheit für Erfahrungen, die eine Öffnung weisen und einen Prozess der gegenseitigen Annäherung und Vermenschlichung von Beziehungen stützen können.

 

Dass es häufig an der Vermenschlichung von Beziehungen mangelt, mag überraschen, sofern die Realität in Organisationen just von Menschen gestaltet und getragen wird. Indes sind die kollegialen Beziehungen von Entfremdungstendenzen nicht geschützt, die sich etwa als Nebeneffekt von überstarkem Konkurrenzdenken und narzisstischen Exzessen Einzelner oder auch als Folge unklarer Verantwortungsbereiche und Zielvorgaben durch die Führungskräfte ergeben können. Vollkommen in den Hintergrund tritt dann, dass Organisationen ihre Stärke ja insbesondere daraus gewinnen, dass ihre Mitglieder die zu lösenden Aufgaben gemeinsam anpacken. Einer solcher Art aus der Balance geratenen Organisation kann durch eine Wiederaufnahme ihrer „Primäraufgabe“ (A. K. Rice) geholfen werden.

 

Die Primäraufgabe ist ein zentrales Konzept aus der psychoanalytischen Gruppenarbeit der Tavistock clinic. Demnach hat jede Institution zu jeder Zeit eine bestimmte Aufgabe, deren erfolgreiche „Ausführung für ihr Fortbestehen unabdingbar ist“ (Rice 1965, 1971, S. 25). Auch die Mitglieder einer Organisation stimmen mit der Aufgabe ihrer Einrichtung überein und unterstützen sie in ihrer jeweiligen Tätigkeit. Die „Primäraufgabe“ einer Organisation ist gewissermaßen ein Analogon zu Freuds Wunschparadigma auf der individuellen Ebene, die bei Lacan zum Subjekt des Begehrens weitergedacht wird. Der Unterschied zum Individuum besteht indes darin, dass sich Organisationen bei der Erreichung ihrer Aufgaben in der Regel objektivierbarer und rationaler Kriterien verpflichten.

 

Dessen ungeachtet erleben auch Organisationen den Verlust ihrer Einheit und machen Erfahrung mit Zuständen sozialer Entfremdung, Spaltungen, Entmenschlichung und Sprachverfremdung, welche sich etwa in fortdauernden und unlösbaren Missverständnissen und anderen Störungen der Kommunikationskultur ausdrücken. Der psychoanalytische Ansatz begegnet diesen Phänomenen anhand der Etablierung einer temporären Hilfsstruktur mit der Funktion eines abgesicherten Modus, in welchem neue Räume für Begegnungen und Gespräche etabliert werden können. Die Dynamik von sozialer Entfremdung lässt sich über einen Zugriff auf die Sprache dem Verstehen zugänglich machen. Das gegenseitige Mitteilen und Zuhören eröffnet nicht zuletzt die Chance, die eigene Sprache neu zu besetzen und festgefahrene Bedeutungen zu verändern.

 

Damit ein solches Sprechen möglich werden kann, sorgt eine professionelle psychoanalytische oder psychodynamische Arbeit zunächst für eine Bewusstseinshaltung gegenüber der Bedeutungsträgerschaft des Sprachgebrauchs. Die psychotische Grundanlage in einem jeden Individuum stellt sich hierzu oftmals quer und reduziert die stets hoch voraussetzungshaften Zusammenhänge etwa von Konflikten auf einen wohlgefälligen kleinen Kontext. Die Ursache eines Problems liegt dann immer beim Anderen. Psychoanalytische Berater sind insofern auf eine Erweiterung des Kontextes aus, um das enge Korsett einfacher Schuld- und Ursachezuschreibungen aufzubrechen.


Das gelingt, indem man im Sprechen beispielsweise die Umgebungsbedingungen verändert und auf diese Weise eine hinreichend heterogene Atmosphäre kreiert, die in der Lage ist, auf das bislang sonore Sprechen ein anderes Echo folgen zu lassen. Kurzum geht es darum, das Gehör für die anderen Töne in einem zu sensibilisieren.

 

Unter den Sprachstilen veranschaulicht die Metapher eben jenen Kippmechanismus im Sprachgebrauch, der dieselbe Aussage wortwörtlich als auch abstrakt zur Auffassung bringen kann. Die Theorien zur Metapher, die sich an klinischen Erfahrungen mit Denkstörungen orientieren, haben gezeigt, wie das konkretistische Verhaftetsein am bildlichen Wert eines sprachlichen Ausdrucks den sprachlichen Austausch und in weiterer Folge die Formen des sozialen Miteinanders reglementiert und einschränkt. Intellektuelle und affektive Verwerfungen sind die Folge.


Ludwig Wittgenstein lieferte eine treffende Beschreibung für diese Fixierung: „Ein Bild hielt uns gefangen. Und heraus konnten wir nicht, denn es lag in unserer Sprache, und sie schien es uns nur unerbittlich zu wiederholen“ (Wittgenstein 1945, 1988).

 

Demensprechend  betont die psychoanalytische „Methode“ die Relevanz des Wegs vor der des Ziels. D.h. es kommt ihr weniger darauf an, ein bestimmtes Ziel innerhalb einer bestimmten Zeit zu definieren; vielmehr legt sie ihr Gewicht auf die Etablierung und Ausgestaltung eines Prozesses, im Zuge dessen Ziele erst gefunden sowie einmal gefundene Ziele ebenso auch wieder verworfen werden können.


Diese Vorgehensweise eröffnet die Chance, den Weg bzw. die Suchrichtung flexibel zu handhaben und an der Konstitution des Objekts auszurichten. Auf diese Weise kann die psychoanalytische Arbeitsweise der Komplexität und Geschichtlichkeit von zwischenmenschlichen Beziehungen und Organisationsstrukturen sowie ihren Wiederholungs- und Konfliktmustern gerecht werden. MSG

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