Die Zukunft der Psychoanalyse hängt davon ab, inwieweit sie ein ähnliches Interesse für gesellschaftliche Fragen entwickeln kann, wie es der ersten Generation der Psychoanalytiker gelang.

(A. Mitscherlich)

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Was ist „angewandte" Psychoanalyse?

Wo, bitte, geht's hier zur Couch? Angewandte Psychoanalyse ist in der Gruppenarbeit nicht neu. Gegenwärtig erreicht sie die Beratungsbranche. Bild King Penguins David Stanley/flickr
Wo, bitte, geht's hier zur Couch? Angewandte Psychoanalyse ist in der Gruppenarbeit nicht neu. Gegenwärtig erreicht sie die Beratungsbranche. Bild King Penguins David Stanley/flickr

Schon zu Freuds Zeiten waren Psychoanalytiker nicht nur in der analytischen Einzeltherapie tätig. Während psychoanalytische Theorie auch außerhalb der Klinik – etwa in Literaturanalysen und Religionskritik – angewendet wurde, gab es in England nach dem Zweiten Weltkrieg erste Versuche für die psychoanalytische Arbeit mit und in Gruppen. An der Londoner Tavistock clinic nutzte etwa Michael Balint (1896-1970) mit einer Gruppe von Sozialarbeitern das psychoanalytische Verfahren in sog. Fallkonferenzen. Die sog. Tavistock Konferenzen werden bis heute durchgeführt.

 

Als Pionier einer angewandten Psychoanalyse gilt indes der Berliner Arzt Karl Abraham (1877-1925). Von Freud übernahm er die Methodik, zum Verständnis eines Phänomens die vergleichende Betrachtung gewisser anderer Phänomene heranzuziehen. So begründete Abraham die Ethno-Psychoanalyse, indem er Freuds Annahmen zum Traum mit Mythen und Volkssagen in Verbindung brachte. Damit ist zugleich eine zentrale Arbeitstechnik der angewandten Psychoanalyse beschrieben: Verschiedene Wissensbereiche sind in die Untersuchung einzubeziehen, um für die Beantwortung einer Fragestellung einen neuen Boden zu schaffen.

 

Wer mit Freuds Schriften und denen seiner Anhänger nicht vertraut ist, schrieb Abraham, wird erstaunt sein, dass man ernstlich versucht, die verschiedensten Gebilde unter ein und denselben Gesichtspunkt nebeneinanderzustellen. Ein solcher Gesichtspunkt ist etwa die Wunschvorstellung. Bekanntlich entdeckte Freud, dass Träume einen Wunsch als erfüllt darstellen. In der an Lacan orientierten Psychoanalyse formuliert sich das Wunschparadigma in das Paradigma vom Subjekt des Begehrens fort.

 

Rein praktisch fordert eine angewandten Psychoanalyse eine Neugierhaltung, die von Urteils- und Ergebnisoffenheit geprägt ist und sich überdies eine Spur Naivität zunutze macht. Die Kernfrage lautet: Welche kulturellen Wahrnehmungsformen lassen sich ermitteln? Dahinter verbirgt sich ein pragmatischer Zugang zum Wissen, der sich zumal auch darin niederschlägt, die Position des Laien einzunehmen. Diese Zurückhaltung verfolgt den erkenntnisgeleiteten Zweck, aus dem Material heraus Fragen stellen zu können.


Wie kommt das Unbewusste ins Spiel, an das ja nur die Psychoanalyse glaubt? Es macht sich unversehens bemerkbar, als Versprecher, Tippfehler, Auslassung, Erinnerungstäuschung, Deckerinnerung, Projektionsphantasie, in Gestalt von Fetischen, Träumen, Phantasmen und Symptomhandlungen. Unbewusste Zusammenhänge tun sich auch als Kontiguität im Sprechen kund, d.h. anhand der zeitlichen Nachbarschaft der Einfälle, die jemand produziert.

 

Es ist zuzugeben, bemerkt auch Abraham am Rand seiner Arbeit aus dem Gebiet der Ethno-Psychoanalyse, dass die Freudschen Lehren jedem Unbefangenen zunächst befremdlich erscheinen müssen. Das solle jedoch kein Grund sein, sie mit einem Achselzucken abzutun. Die gedanklichen Verbindungen, die auch die angewandte Psychoanalyse herzustellen imstande ist, rühren von der Erkenntnishaltung her, dass die Wahrheit, nach der man sucht, prinzipiell überall sein kann. Und dass sich dieser Wahrheit selten auf dem direkten Weg beikommen lässt, sondern anhand von Detailbeobachtungen und Nebensächlichkeiten – ja selbst unter Einbeziehung von Witzen, Irrtümern oder Widersinnigem.

 

Die Formel vom Subjekt des Begehrens gilt indes auch für den psychoanalytischen Prozess selbst. Anders als die Vorstellung von der abstinenten Grundhaltung suggeriert, wird der analytische Prozess auch und vor allem vom Begehren des Analytikers geprägt. Darum ist es wichtig, dass sich analytisch Tätige anhand von Inter- oder Supervisionen einem ständigen Reflexionsprozess mit Blick auf das eigene Begehren stellen.

 

Mehr noch als bei Wunsch oder Bedürfnis richtet sich das Begehren auf etwas Unerreichbares oder gar Unmögliches. Das Objekt des Begehrens ist nur um den Preis des Konflikts oder Regelbruchs erreichbar. Zugleich ist es die wesentliche Antriebskraft im Leben eines Menschen. Begehren meint nicht per se ein erotisches Verlangen. Beispielsweise könnte es auch der Partizipationswunsch sein, an der Macht oder dem Reichtum des Konkurrenten teilzuhaben. Das Begehren entspricht, darauf kommt es hier an, einer Form des Genießens, die mit den Anforderungen der Realität, einer getroffenen Vereinbarung, des Gesetzes oder unserer Kultur zu konfligieren drohen. In Organisationen erfüllt die sog. Primäraufgabe die Funktion des Begehrens.

 

Dessen ungeachtet ist die angewandte Psychoanalyse darauf angewiesen, den Regelkanon eines Menschen oder einer Organisation zu hinterfragen, um mit den Beteiligten in ein wirkliches Arbeitsbündnis eintreten zu können. Dieses Verfahren macht sich insofern weniger eine Methode zunutze, sondern bietet eine Prozessarchitektur an. Sie hat das Ziel, „Normalisierungsarbeit“ (Matthias Kettner) an den kulturellen Bedingungen der sie beauftragenden Klienten und Organisationen zu leisten, wozu auch die Integration von sozialen und ökologischen Aspekten gehört.

 

Aufgrund ihres fundamentalen Wissens von den primären und sekundären Symbolverarbeitungsmechanismen beim Menschen ist die Psychoanalyse wie keine andere Disziplin geeignet, gestaltgebende bzw. gestaltauflösende Prozesse zu erforschen und zu moderieren. Ihre Fähigkeit, vom exemplarischen Einzelfall auszugehen, verhindert dabei ein willkürliches Überstülpen beliebiger Problemlösungsstrategien. Der angewandten Psychoanalyse geht es weniger darum, ein Phänomen bis ins letzte Detail zu erklären, als ihm seinen Platz im Sinngefüge der kulturellen Verhältnisse zuzuweisen. MSG

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