Der Wunsch nach Normalität erklärt sich aus dem Bedürfnis nach einem Leben unter sicheren Bedingungen. Allgemein gilt als normal, was der Erwartung entspricht, die eine Mehrheit von Mitgliedern einer Gesellschaft an den Einzelnen hat. Dies umfasst das Handeln, Denken und Sprechen – also jene Bereiche, in denen der Einzelne auch seiner individuellen Identität Ausdruck verleiht. Auf diesem Feld, wo äußere Erwartungen und individuelle Eigenarten zusammentreffen, entscheidet sich daher auch, wie normal „ganz normal“ eigentlich ist.
Abweichungen von den Normalitätsvorgaben werden von der Gesellschaft toleriert, solange sie sich nicht radikal gegen sie richten. In der Kunst werden Regelbrüche und Normverstöße – etwa Verstöße gegen die Seh- oder Hörgewohnheiten des Mehrheitspublikums – toleriert. Schwere Abweichung von der Norm wie etwa bei der Delinquenz werden indes strafrechtlich verfolgt. Dabei hätte insbesondere der Verbrecher Anspruch auf den Titel „authentisch“, der entsprechend seiner griechischen Ursprungsbedeutung „nach eigenen Gesetzen leben“ bedeutet.
Wie steht es mit charakterlichen oder biographischen Defiziten? Die Normalitätserwartungen einer Gesellschaft verlangen vom Einzelnen, nie unkontrolliert zu sein. Bis auf klar festgelegte Ausnahmen (sog. Ventilsitten wie beispielsweise Faschingsfeste) dürfen wir nicht allzu sehr aus der Rolle fallen. Die Folge ist, dass die Sehnsucht nach ungezwungener Authentizität oftmals ungestillt bleibt. Solange der Einzelne sich den Normen seiner Umgebung unterwirft und anpasst, ist er ein anderer, als er es sein könnte. Gespielte Authentizität wird zumeist eher toleriert als „echte“ Authentizität.
Wir erzählen uns die Geschichten unseres Lebens. Wir werden zum Whisky-Kenner oder Kunstsammler und tragen auf diese Weise eine Verfeinerung unseres Charakters zur Schau. Brisanterweise ist jedoch unklar, inwieweit es sich dabei tatsächlich um unsere Geschichte handelt oder eben um ein Konstrukt, das auch die Folge eines Anpassungsprozesses an das Normale ist. So bleibt die Frage offen, woran wir eigentlich den „echten“ Menschen erkennen? An seinen Emotionen und Affekten? Oder machen ihn nicht vielleicht gerade die versteckten Zeichen dessen aus, was ihn oder sie von der Norm unterscheidet – also just das, was ihn uns als unnormal und fremdartig erscheinen ließe?
In unserer medienvermittelten Öffentlichkeit war seit dem Aufkommen des Privatfernsehens zu beobachten, dass das Unnormale für die Öffentlichkeit solange akzeptabel ist, wie es öffentlich preisgegeben wird. In den Nachmittags-TV-Shows bekannten sich unzählige Studio-Gäste zu ihren mitunter sehr intimen Eigenarten und Problemen, über die dann fernsehöffentlich verhandelt wurde. Mit keinem Geheimnis musste hinter dem Berg gehalten werden, alles durfte öffentlich mitgeteilt werden ganz gleich ob Fetischismus, Perversionen, psychische Krankheiten und dergleichen mehr. Die gesamtgesellschaftliche Botschaft lautet: Du bist nur dann ein Sonderling, wenn du mit deinen Sonderbarkeiten auf deine Privatsphäre beharrst.
Auch wenn die Enthüllungs-TV-Shows glauben lassen, es bestehe ein Interesse am Einzelnen, geht es letztlich doch eher um Voyeurismus. Allgemein interessiert sich niemand ernsthaft dafür, wer man ist. Auch aus Sicht des Individuums selbst ist das nicht erwünscht, weil es darauf hinausläuft anzuerkennen, dass man doch anders ist. Zumindest anders, als man von den anderen gesehen werden möchte. Kaum jemand geht ohne „Charaktermaske“ durchs Leben aus Angst, als jemand anderes erkannt zu werden. Was eigentlich normal ist, erweist sich mit Blick auf die Fähigkeit des Menschen zur Verstellung als nur schwer zu beantwortende Frage.
Der Kopilot des Germanwings-Flugs von Barcelona nach Düsseldorf wird von seinen Kollegen als „ganz normaler junger Mann“ beschrieben. Weder „auffällig normal, aber auch nicht unauffällig normal. Ganz einfach ganz normal“ (F.A.Z. vom 28.3.2015). Für sein junges Alter war er im Beruf, aber auch gesellschaftlich sehr erfolgreich. Kürzlich erst soll er sich zwei PKW der Marke Audi bestellt haben, einen für sich und einen für seine Freundin. Ein vorbildlicher Konsument.
Das Schockierende an dieser mutmaßlichen Amok-Tat ist darum auch, dass das Potential zum sogenannten Böse eines Menschen eben nicht äußerlich als ein Abweichen von der Normalität erkennbar ist, sondern sich mit dem „normalen Leben“ aufs allerbeste verträgt. Wenn das mutmaßliche Amok-Handeln des Kopiloten in manchen Berichten nun mit einer schweren Depression erklärt wird, erscheint dies als der hilflose Versuch einer nachträglichen Ausgrenzung des Phänomens aus dem Bereich des Normalen. Denn der Gedanke, dass das Normale das Pathologische enthält und sogar deckt, macht die Katastrophe noch einmal größer. Zugleich fühlt man sich zu dem Einwand gedrängt, dass ein psychisches Leiden aus einem Menschen noch lange keinen Massenmörder macht.
Das bürgerliche Ich galt einst als das Ideal des normalen Lebens. Dieses Ich sollte ein starkes Ich sein. Es sollte das Individuum stärken. Viele starke Individuen sollten eine Zersplitterung von Gesellschaft und Persönlichkeit verhindern helfen. Das Ideal des starken Ich ist eng gebunden an eine Idealisierung des rational-logischen Denkens. Es blendet darum viele Dinge aus – insbesondere jene Phänomene, die für Sigmund Freuds Entdeckung des Unbewussten relevant wurden.
Erscheinungen des Wahnsinns, wie sie im Witz noch gern genossen werden, im Traum bereits Verwirrung stiften und im Versprechen oder Vergessen von Namen zum handfesten Ärgernis werden, führen beim psychischen Symptom zur Überforderung des Normalitätsdiskurses. Aus psychoanalytischer Sicht spricht indes einiges dafür, dass das Unnormale der Regelzustand ist, während Normalität erst als das Ergebnis einer individuellen oder kollektiven Kraftanstrengung zu gelten habe. Das Rätsel des „echten“, d.h. authentischen Menschen eröffnete sich Freud sofern auch erst im Rahmen seiner klinischen Forschungen, wo er das Normale ausgehend von Zuständen des menschlichen Unnormalseins erforschte. MSG
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