Die infantilen Sexualtheorien gelten Freud zufolge als vorbildlich für das Neugierverhalten des späteren Erwachsenen. Freuds Ausdruck „infantile Sexual-forschung“ besagt, dass das Sexualleben des Kindes auch mit dem Anfang jener Tätigkeit einhergeht, „die man dem Wiß- oder Forschertrieb zuschreibt“ (Freud 1905d, S. 95ff.). Dieser Wisstrieb sei Freud zufolge weder ein elementarer Trieb noch ausschließlich der Sexualität unterzuordnen. Er entspreche einerseits einer sublimierten Weise der Bemächtigung, andererseits arbeite er mit der Schaulust. Seine Beziehungen zum Sexualleben seien dennoch bedeutsame, sofern der Wißtrieb der Kinder unvermutet früh und intensiv „von den sexuellen Problemen angezogen, ja vielleicht erst durch sie geweckt wird“ (ebd.).
Der „Wille zum Wissen“ (Foucault) ist insofern bereits bei Freud ein konstituierender Aspekt der menschlichen Sexualität. „Nicht theoretische, sondern praktische Interessen sind es“, so Freud weiter, „die das Werk der Forschertätigkeit beim Kinde in Gang bringen“ (ebd.). Die Bedrohung seiner Existenz durch die Ankunft eines Geschwisterchens etwa schärft die Beobachtungsgabe bei Kindern für die großen Fragen des Lebens à la „Woher kommen die Kinder?“. Der Mensch ist zeitlebens Sexualforscher. Herkömmliche Vorstellungen, wonach Sexualität den Menschen erst ab der Pubertät betrifft, werden hierdurch obsolet.
Die frühkindliche Sexualforschung ist vorbildlich für alle späteren Suchbewegungen des Individuums. In diesem Zusammenhang weist Freud darauf hin, dass die kindliche Sexualforschung typischerweise misslingt, da dem Kind zwei wesentliche Elemente unbekannt bleiben – die Rolle des befruchtenden Samens und die Existenz der weiblichen Geschlechtsöffnung. (Ebd., S. 97) Auf diese Weise bleibe das Bemühen der infantilen Forscher unfruchtbar und ende in einem Verzicht, der nicht selten eine dauernde Schädigung des Wisstriebs zurücklässt. „Die Sexualforschung dieser frühen Kinderjahre wird immer einsam betrieben; sie bedeutet einen ersten Schritt zur selbständigen Orientierung in der Welt und setzt eine starke Entfremdung des Kindes von seiner Umgebung, die vorher sein volles Vertrauen genossen hatte“ (ebd.).
Der psychoanalytische Sexualbegriff ist ein erweiterter und umfasst alle Äußerungsformen und Elemente der sexuellen Liebe. (Vgl. Laplanche/Pontalis 1999, S. 466) Freud legte Wert darauf, Sexualität nicht als eine rein genetische und endogene Konzeption zu betrachten, was sich etwa an der Bedeutung, die er der Verführung zuschreibt, ablesen lässt. Auch in der analytischen Tätigkeit geht es darum zu fragen, was wir aus der Übertragungsliebe im Psychischen erhalten können. In Bemerkungen über die Übertragungsliebe (1914) rät Freud dazu, die Liebesübertragung festzuhalten, „sie aber als etwas Unreales [zu behandeln], als eine Situation, die in der Kur durchgemacht, auf ihre unbewussten Ursprünge zurückgeleitet werden soll und dazu verhelfen muß, das Verborgendste des Liebeslebens des Patienten dem Bewusstsein und damit der Beherrschung zuzuführen“ (Freud 1915a, S. 314).
Das zeitgemäße Diktum vom hohen Stellenwert des Wissens in der sog. „Wissensgesellschaft“ lässt sich aus psychoanalytischer Sicht nicht ohne Bezug zur Sexualität und ihrer Erforschung denken. Für Psychoanalytiker hat es gewissermaßen nie etwas anderes als Wissensgesesellschaften gegeben. Dessen ungeachtet konstatierte der Literaturwissenschaftler Magnus Klaue in einem Zeitungsbeitrag aus dem Jahr 2011, dass die Zeit der Sexualwissenschaft in Deutschland vorbei sei. „Während ihre Institute den Fachbereichen für Medizin oder Psychologie angegliedert werden, werden ihre Wegbereiter vergessen“ (F.A.Z. vom 5.1.2011, S. N 5). Das Bild zum Artikel zeigt Sigmund Freud an seinem Londoner Schreibtisch, 1938.
Klaue kritisiert, dass „[w]ann immer heute über Partnerschaft oder Familie gesprochen wird, es frontenübergreifend um deren gesellschaftlichen Nutzen, nicht um individuelle Bedürfnisse [geht]“ (ebd.). Während sich die Sexualwissenschaft in den sechziger Jahren als kritischer Gegner der bürgerlichen Gesellschaft verstanden habe, scheine der Widerspruch zwischen individuellen Wünschen und sozialen Normen aus dem Blick geraten zu sein. Das liege auch daran, dass Sexualität zu einem Spezialfach der Biologie geworden ist. So bildete sich um den Frankfurter Sexualwissenschaftler Volkmar Sigusch einst ein Kreis von Wissenschaftlern, dem neben Psychotherapeuten und Soziologen auch Kunst- und Kulturwissenschaftler wie etwa der Kunsthistoriker Peter Gorsen angehörten.
Siguschs Sexualwissenschaft verstand Sexualität als historisch geformten Ausdruck menschlicher Triebnatur. Sie „unterschied nicht, wie die gängige Sexualmedizin, zwischen natürlichen und unnatürlichen, aber auch nicht, wie die von Michel Foucault und Félix Guattari beeinflussten Anti-Psychiater, zwischen normierten oder polymorphen Trieben. Sondern zunächst orthodox freudianisch, ganz einfach zwischen sexuellem Glück und sexuellem Elend“ (ebd.).
Sigusch und seinen Leuten ging es also um eine „Entpathologisierung des Sexuellen“. Dem ging die Anerkennung des Fortlebens infantiler Triebregungen in der erwachsenen Sexualökonomie voraus. Insbesondere lag den Sexualwissenschaftlern jedoch daran, „dass die empirische Alltäglichkeit als ‚pervers‘ qualifizierter sexueller Regungen bewusst gemacht werden sollte“ (ebd.). In diese Richtung wies auch Siguschs oft missverstandene Formulierung von der „Perversion, ohne die die Liebe eine Ödnis wäre“. Sie richtete sich gegen ein entsexualisiertes Verständnis von Liebe, die alles „Unreine“ ausschließe. Wie zuvor bereits Freud ging es auch Sigusch darum, Sexualität als Indikator für kulturelle Diagnosen ernstzunehmen – ein epistemischer Ansatz, der die Einbeziehung von Kulturwissenschaftlern und Forscher anderer geisteswissenschaftlicher Disziplinen als eine Selbstverständlichkeit erscheinen lässt.
Nach Siguschs Emeritierung wurde das Institut im Jahr 2006 geschlossen. Klaue zufolge sei es seinem Erfolg selbst zum Opfer gefallen, sofern viele seiner politischen Ziele zwischenzeitlich erreicht wurden. Die Allgemeinheit stehe „Homosexualität“ und „Perversionen“ nicht mehr prinzipiell feindlich gegenüber; im Rahmen eines modernen sexuellen „Verhaltensmanagements“ erscheinen sie als Fall unter Fällen. (Vgl. ebd.)
Das Modewort Gendervielfalt verdeckt derweil die Tatsache des individuellen Triebschicksals, von dem die Psychoanalyse auch heute noch ausgeht und mit der sie darauf aufmerksam macht, dass der einzelne Fall eben nicht nur einen einzigen Fall darstellt, sondern sich in verschiedene Fälle aufspaltet und ausdifferenziert. Erst in der Anerkennung dieser Differenz wird Sexualforschung dem Wissenstheorem gerecht, wie es Freud in seiner Schrift Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (1905) zur Geltung brachte. MSG
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