Die Zukunft der Psychoanalyse hängt davon ab, inwieweit sie ein ähnliches Interesse für gesellschaftliche Fragen entwickeln kann, wie es der ersten Generation der Psychoanalytiker gelang.

(A. Mitscherlich)

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„Toleranz – Überprüfung eines Begriffs“

Der Zeichenstift des Karikaturisten als Symbol der Toleranz. Bildkomposition Jacinthe C./flickr
Der Zeichenstift des Karikaturisten als Symbol der Toleranz. Bildkomposition Jacinthe C./flickr

Mitte der 1970er Jahre erschien bei Suhrkamp ein Büchlein mit dem Titel Toleranz – Überprüfung eines Begriffs. Der Autor, Alexander Mitscherlich, geht in dem Band den Gründen für das Scheitern toleranter Programme nach und führt sie auf falsche Vorstellungen über unsere innere Freiheit zurück. Zunächst habe Toleranz etwas mit Gleichmut zu tun: Ertragen, Erdulden heißt, psychologisch ein Gleichgewicht gegen störende Einflüsse von außen als auch von innen aufrecht erhalten zu können. Bei Überlastung und Überschreiten der Toleranzgrenze endet die Geduld, in der Folge treten neue, häufig aggressive Verhaltensformen zutage. Man wird immer tiefer in eine Atmosphäre giftiger Intoleranz getrieben.

 

Die größte Entdeckung der Kultur, wie sie auch Freud sah, ist die Einsicht in den Spielraum der Entscheidungsfähigkeit im Umgang mit den abweichenden Interessen des Nebenmenschen. Diese Freiheit kommt insbesondere in einer toleranten Haltung zum Ausdruck, also in der praktizierten Selbstüberwindung als Voraussetzung der Anerkennung der Interessen des Gegenspielers. Mitscherlich folgert daraus, dass in tolerantem Verhalten eine "typisch menschliche Wahlfreiheit" zum Ausdruck komme. Diese Wahlfreiheit sei jedoch keineswegs gesichert, sie gerate wie andere Entdeckungen der Menschheit immer wieder in Vergessenheit.

 

Der Fortschritt der Kultur hat im Laufe von Jahrhunderten nicht nur neue aufgeklärtere Verhältnisse geschaffen, sondern auch unablässig Strukturen und Traditionen zerstört, mithin das Gegenteil dessen bewirkt, was eigentlich von toleranten Kulturbedingungen zu erwarten wäre. Es ist, als ließe sich Toleranz immer nur durch Phasen der Intoleranz hindurch erhalten. Oftmals führt Anonymität und ein Mangel an Wissen zum Schwinden toleranten Denkens und Handelns. Dass der Umgang mit Wissen ein ganz unterschiedlicher sein kann, offenbart das Kuriosum, dass der Begriff der Aufklärung von der Philosophie mit ebenso viel Verve in Anspruch genommen wird wie von der Politik, den Nachrichtenmedien und den Geheimdiensten. Dem Ideal der Gedankenfreiheit nähern sich Gesellschaften nicht selten erst unter prekären Bedingungen an.


Was die libidinöse Seite des Weltgeschehens betrifft, für die sich die psychoanalytische Sicht interessiert, lässt sich sagen, dass Toleranz zur Entwicklung und Differenzierung triebdynamischer Kräfte beiträgt. Wo Toleranz nicht mitherrscht, liegt ein bedrückender Entwicklungsrückstand vor. Es fehlt dann der spezifisch menschliche Beitrag zur Weltgeschichte. Schuld daran sind häufig Ängste – etwa vor Überfremdung oder sozialer Ausgrenzung – die das Kulturgut Toleranz bedrängen und reaktionäre Forderungen etwa nach schärferen Gesetzen, nachhaltiger Überwachung und starken Führerpersönlichkeiten wachrufen. Seit Freuds Massenpsychologie und Ichanalyse haben wir Einblick in die Dynamik dieser kompakten wechselseitigen Verhaftung bekommen. Toleranz", so einer der Kernsätze in Mitscherlichs Aufsatz, setzt Mut voraus, denn sie gelingt aus Angstüberwindung in einem Augenblick, in dem das Angstsignal fühlbar geworden ist.“


Zugleich rührt Toleranz als typisch menschliche Wahlfreiheit an den Aspekt der Urteilsbildung. Dieser Aspekt wurde für Freud bereits ab 1895 in der Lektüre von Wilhelm Jerusalems Buch über die Urteilsfunktion relevant. So ist das Freudsche Urteil im Entwurf einer Psychologie, einem Urtext der Psychoanalyse, „von seinem Ursprung an auf das Herausfallen eines Dinges aus der Sprache gerichtet“ (Kaltenbeck 2013). Das intolerante Urteil korrumpiert und funktionalisiert das Sprechen und führt zu babylonischer Sprachverwirrung. Man versteht einander nicht oder nicht mehr. An anderer Stelle werden Werte verkehrt: Vertreter dezidiert intoleranter Programme sehen sich plötzlich als Verteidiger von Demokratie und Rechtsstaat, demonstrieren dabei gegen die „Lügenpresse“. 


Dabei sind die Schwierigkeiten der Urteilsbildung in der Sprache selbst gegeben, die immer mehrdeutig und auslegungsbedürftig ist. Wer sich ein Urteil bilden will, muss sich zunächst zwischen semantischen Selbsttäuschungen und Fremdstereotypen hindurchbewegen. Scharfsichtige Realitätswahrnehmung und wahnhafte Verkennung liegen oftmals nah beieinander.

 

Toleranz als Möglichkeit reicht genauso weit, wie sich die kritischen Fähigkeiten des Einzelnen und einer Kultur entfalten konnten und durften. Toleranz ist ein unabschließbarer Bildungsauftrag, den sich eine Zivilgesellschaft verordnet, um dem Ausagieren aggressiver Tendenzen zuvorzukommen. Dieser Bildungsauftrag kommt nicht ohne traumatische Erlebnisse aus, so wie es keine Erziehung ohne Traumen gibt, weil das Miteinander von Menschen nicht von definitiven Umgangsformen geregelt wird. 


Die Ich-Reifung und Identitätsbildung beim Einzelnen hängt auch von den Umgangsformen einer Gesellschaft ab und inwieweit deren Zusammenhalt dem Individuum nicht nur Anpassungsforderungen auferlegt, sondern auch das Gefühl der Freiheit vermittelt, individuelle Abweichungen tolerieren zu können. Das effektivste Hilfsmittel dieses Austarierungsprozesses ist Liebe im weitesten Sinn, was sich etwa daran erkennen lässt, dass aggressive Konflikte „die Zärtlichkeit auslöschen, die in vielen Fällen eine physische Begleiterscheinung der Toleranz ist“ (Mitscherlich 1974). MSGDer Zeichenstift des Karikaturisten als Symbol der Toleranz. Bildkomposition Jacinthe C./flickr

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