Das Verhältnis von Karte und Gebiet sollte idealerweise so realitätsgetreu wie möglich sein. Die maßstabsgenaue Erkundung war seit jeher auch das Ziel der naturwissenschaft-lichen Erforschung von Körper und Geist. Schon zu Freuds Zeiten dominierte die Vorstellung, die Wissenschaft wäre früher oder später in der Lage, etwa im Gehirn die Areale genauestens anzugeben, wo psychische und motorische Abläufe gesteuert werden. Mittels der Genforschung wird versucht, psychische Erkrankungen wie bspw. Schizophrenie anhand von gezielten psychopharmazeutischen Gaben zu beheben.
Eine großangelegte internationale Studie der biologischen Psychiatrie hat kürzlich 108 Orte im Genom entdeckt, die mit der Schizophrenie assoziiert sind (F.A.Z. vom 23.7.2014). "Wenn man sich das Genom als Buch vorstellt, müsste man sagen", so die Wissenschaftler, "dass wir bislang nur zu dem Satz hinzeigen konnten, aber nicht zu dem einzelnen Wort, um das es geht." Mit der neuen Studie würde es nunmehr möglich, "Ein-Wort-Sätze" auszulesen. Dies verbessere auch das Verständnis von psychischen Erkrankungen: "Die klinische Symptomaik von Schizophrenie-Patienten ist heterogen und bunt", so ein Forscher. In Zukunft könne man jedoch bestimmte Subgruppen von Patienten analysieren und genetische Zuordnungen treffen und etwa "Korrelate im Genom für eine starke paranoide Symptomatik suchen." Ohne die Rolle der Umwelt gänzlich außerachtzulassen, sehen es die Forscher nunmehr als bewiesen an, dass "psychiatrische Störungen einen somatischen Ursprung haben."
Mit Blick auf die Frage, ob der Mensch, sein Körper, seine Gene und insbesondere seine Seele gleich einer Karte erschlossen und verständlich gemacht werden könne, geht es im Kern auch darum, ob bei der Deutung von Symptomen und Erkrankungen die Natur oder die Kultur den Sieg davonträgt. Eine Renaturalisierung des Menschen, seines Charakters und seiner individuellen Ausprägungen steht dabei stets zu befürchten. Die Beantwortung dieser Frage wirkt sich zudem unmittelbar auf jene andere wichtige Frage nach der Verantwortung für menschliches Handeln aus.
Wenn man Schizophrenie als eine Form von Denkstörung betrachtet, kann ihr Zustandekommen auch mit Besonderheiten im Zuge des Spracherwerbs in Verbindung gebracht werden. Dieser Erklärungsansatz wurde in der Psychoanalyse frühzeitig erforscht und dokumentiert. Roman Jakobson, der sich aus klinischer Sicht mit Fragen des metaphorischen Sprachgebrauchs beschäftigt hat, wies auf den konkretistischen Charakter von Verständigungsprozessen beispielsweise traumatisierter oder an Schizophrenie leidender Menschen hin: Schizophrenen fehlt sehr häufig die Möglichkeit, Teil eines zeichen- und symbolgebundenen Gedankenprozesses zu sein.
In der Sicht eines Forschers wie Jakobson erschiene das Individuum niemals als identisches Abbild seiner biologischen Veranlagung, wie Untersuchungen zur Genetik
stets nahezulegen scheinen. Schizophrenie, aber auch "Negativsymptome" wie Rückzugsverhalten und Depressivität können vielmehr als Folgewirkung bestimmter Erfahrung im Umgang mit Zeichen, d.h.
vor allem mit Sprache interpretiert werden. Der Erforschung des individuellen Sprachgebrauchs - etwa im Rahmen von Ich-Erzählungen oder im Kommunikationsgeschehen - müsste daher verstärkte
Aufmerksamkeit gewidmet werden, um der Kulturverhaftetheit des Menschen gerecht zu werden.
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