Ungerührt des Fortschritts in Wissenschaft und Gesellschaft wendet sich die Psychoanalyse meist der Vergangenheit zu: Während in der psychoanalytischen Kur etwa Erinnerungen an frühe Erlebnisse eine zentrale Rolle spielen, bezieht sich die theoretische Forschung regelmäßig auf die Gründungsdokumente der Disziplin, d. h. auf die Schriften Freuds. Findet in der Psychoanalyse also kein Fortschritt statt?
In der analytischen Kur meint Fortschritt, im Sprechen voranzuschreiten. Freuds Grundregel, alles ohne Einwände der Kritik mitzuteilen - der sog. "freie Einfall" - bewirkt den Fortschritt im analytischen Prozessgeschehen. Dieses Geschehen zielt nicht darauf ab, Bedeutungen festzulegen, sondern immer neue Einfälle zu produzieren, die in ihrer Gesamtheit ein neues Wissen über ein Individuum entstehen lassen. Hierin zeigt sich die Erfindungskunst der Analyse, also ihre Fähigkeit, Neues ins Denken einzubringen. Es ist ein "Fortschritt in der Geistigkeit" (Freud 1939, S. 219).
Heute wird in der Psychoanalyse-Theorie Fortschritt nicht selten mit einer Preisgabe analytischer Prämissen - etwa mit Blick auf eine bessere Anschlussfähigkeit an angesagte Wissenschaften - erkauft. Oder es wird versucht, Freuds Metatheorie fortzuschreiben und Psychoanalyse zu spezialisieren. Fraglich ist, ob diese Praxen nicht eher einen Verlust psychoanalytischen Wissens nachsichziehen.
Der Fortschritt der Psychoanalyse ist eventuell kein Fortschritt in der psychoanalytischen Theorie oder Praxis. Jene Weiterentwicklung, zu der Psychoanalyse beiträgt, besteht vielmehr darin, eine Prozessarchitektur zu schaffen, innerhalb derer Denken anders ablaufen kann als gewöhnlich der Fall. Eine solche Prozessarchitektur ist natürlich die analytische Kur und ihr spezifisches Setting. Eine andere mag ein Blog wie dieser ermöglichen, der Psychoanalyse für die Medialität des Internets zu öffnen versucht.
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